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Gefahr der Gegenwart

18. Juni 2008 , Geschrieben von Parents Veröffentlicht in #Antisemitismus

Bundestag und Bundesregierung wollen stärker gegen Judenfeindlichkeit vorgehen. Wie groß ist das Problem des Antisemitismus in Deutschland?





Jörg Ziercke neigt nicht dazu, sich in der Öffentlichkeit aufzuregen. Doch gerade der nüchterne Ton, den der Präsident des Bundeskriminalamts am Montag im Bundestag anschlug, verdeutlicht die latente Gefahr, der die jüdischen Gemeinden in Deutschland ausgesetzt sind. Pro Tag registriere die Polizei im Schnitt vier antisemitische Straftaten, ein Teil davon sind gewaltsame Attacken – laut Ziercke etwa fünf im Monat. Und: Im vergangenen Jahr wurden 30 jüdische Friedhöfe geschändet. Die Zahlen „belegen ein ernst zu nehmendes Potenzial“, sagte Ziercke in der öffentlichen Anhörung, die der Innenausschuss in Berlin im Reichstagsgebäude zum Thema „Antisemitismus in Deutschland“ veranstaltet hatte. Schon die Bilanz des BKA-Präsidenten verdeutlichte den Parlamentariern die Notwendigkeit, stärker als bisher gegen den Hass auf Juden vorzugehen.

Die Anhörung mit insgesamt zehn Experten zeugte allerdings auch von den Mühen, das Problem Antisemitismus in seiner gesellschaftlichen Dimension präzise zu benennen. Ressentiments gegen Juden grassierten auch in der bürgerlichen Mitte, warnte der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer. Der Publizist Henryk M. Broder hielt sogar den Antisemitismus von Neonazis wie Horst Mahler für „politisch irrelevant“ und für einen „Nachruf auf sich selbst“. Der moderne Antisemit, ob konservativ, liberal oder links, trauere um die Holocaust-Opfer, bekenne sich aber „ganz unbefangen zum Antizionismus“ und störe sich daran, „dass es Israel gibt“.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, machte auf die „Brückenfunktion“ des Antisemitismus aufmerksam: Rechtsextremisten versuchten, judenfeindliche Einstellungen in bürgerlichen Kreisen zu nutzen, um dort Anhänger zu gewinnen. Und Julius H. Schoeps hält den Judenhass der braunen Szene ganz und gar nicht für irrelevant. Entgegen jüngeren Analysen, die eine taktische Zivilisierung der NPD und ihres Neonazi-Umfelds erkennen wollten, agiere der Rechtsextremismus „wieder in einer erstaunlichen Offenheit und Aggressivität antisemitisch“, sagte der Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Außerdem sprach Aycan Demirel von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus davon, dass bei muslimischen Jugendlichen judenfeindliche Einstellungen zunähmen.

Was also tun, wenn die Sachverständigen in der Analyse des Antisemitismus teilweise unterschiedliche Schwerpunkte setzen? Bei der Anhörung zeichnete sich ab, worauf sich die Fraktionen des Bundestags mit der Bundesregierung verständigen könnten. Ein Vorschlag, den der prominente jüdische Historiker und KZ-Überlebende Arno Lustiger im September 2007 in einem Brief an alle Abgeordneten unterbreitet hatte, scheint konsensfähig zu sein: Im Auftrag der Bundesregierung solle ein jährlicher Bericht zur Bekämpfung des Antisemitismus erstellt werden. Zustimmung signalisierten am Montag der Vorsitzende des Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD) und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke). Von Union, FDP und Grünen kam kein Widerspruch. Als Autoren des Berichts können sich mehrere Abgeordnete und Sachverständige ein „Expertengremium“ oder sogar einen eigenen Bundesbeauftragten vorstellen. Edathy hofft, bis zum Jahresende sei ein Modell beschlossen.

Demnächst könnte auch ein Streitfall entschieden sein, der einigen Abgeordneten und Sachverständigen als klassisches Beispiel für den Konflikt um bürgerlichen Antisemitismus im Gewand des Antizionismus gilt. Am Rande der Anhörung hieß es, der von jüdischer Seite kritisierte Publizist Ludwig Watzal, Redakteur bei der Bundeszentrale für politische Bildung, werde dort „umgesetzt“ – also degradiert. Watzal schreibt in seiner Freizeit häufiger rabiate Texte: So verteidigte er die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah gegen den Vorwurf antisemitischer Vernichtungsfantasien. Im März hatten drei jüdische Institutionen in Briefen an Bundesinnenminister Schäuble gefordert, die Bundeszentrale solle Watzal entlassen.



(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 18.06.2008)
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