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Magazin Mitbestimmung 09/2011 - Hans-Böckler-Stiftung - JAV im Industriepark Walsrode /Bomlitz: kreativ und durchsetzungsfähig

15. September 2011 , Geschrieben von Parents Veröffentlicht in #soziale Gerechtigkeit - gewerkschaftliche Kämpfe

Magazin Mitbestimmung Ausgabe 09/2011
YouTube, Kondom und Brausepulver
JAV Die Arbeit der Jugend- und Auszubildendenvertreter ist eine Hoffnung für die Gewerkschaften. Die JAVis lernen Mitbestimmung und sorgen mit unkonventionellen Aktionen für Aufmerksamkeit. Doch ihre Rechte sind beschränkt, oft sind sie vom Wohlwollen des Betriebsrats abhängig. Von Andreas Molitor

ANDREAS MOLITOR ist Journalist in Berlin. 
Ein trötiges Saxofon, ein schleppender Beat, ein paar Akkorde auf der akustischen Gitarre - fertig ist der Gewerkschaftshit. Und dazu diese Zeilen, vorgetragen in schwerblütigem Tonfall: "Jetzt muss ich hier Abschied nehm'/Das kann ich jetzt nicht verstehn/Zwei Jahre, dann soll ich gehn/Die Zukunft, ich kann sie nicht sehn". Völlig klar, worum es geht. Die Ausbildung neigt sich dem Ende zu - und es gibt keine Perspektive. Die Song-Lyrik dreht noch einige gewagte Pirouetten um das Thema Übernahme: "Wozu denn noch die Prüfung bestehn/Wenn wir doch sowieso gehn/Könn' sie uns nicht in die Zukunft mitnehm'/Und verhindern, dass wir hier Abschied nehm'". 
Tobias Kraushaar und seine Mitstreiter von der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) des Güterverkehrszentrums der Deutschen Post AG in Erfurt haben den "Übernahmesong" selbst komponiert, ein Video gedreht und auf YouTube eingestellt. Offenbar trafen sie den Nerv ihrer Gewerkschaft. Für den Azubi-Agitprop gab es vom ver.di-Bundesvorstand ein dickes Lob. Der "Übernahmesong" beschreibt die Situation der Azubis im Erfurter Güterverkehrszentrum. Kaum einer der Jugendlichen, die dort in den vergangenen Jahren ihre Ausbildung abgeschlossen haben, wurde anschließend in eine Vollzeitstelle ohne Befristung übernommen. Wenn überhaupt, gab es ein Übernahmeangebot von drei Monaten. 
DIE AKTIONEN SIND EINE SPUR PROVOKANTER_ Gegen diese zukunftsvergessene Praxis stemmen sich der JAV-Vorsitzende Tobias Kraushaar und seine Kollegen nach Kräften. Die Übernahme nach der Lehre ist für sie naturgemäß das wichtigste Thema. Dass in diesem Jahr einige Azubis nach der Ausbildung wenigstens noch ein halbes Jahr bleiben konnten, verbuchen sie schon als kleinen Erfolg. Die JAVis agieren eine Spur provokanter und plakativer als die gesetzteren Kollegen vom Betriebsrat. "Wir können den Naivitätsjoker ausspielen und Aktionen machen, die sich der Betriebsrat nie erlauben würde", erklärt Kraushaar, der demnächst seine Ausbildung zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen abschließt. Dass gestandene Betriebsräte zur Rushhour ein lautes Hupkonzert auf einer der Erfurter Hauptverkehrsstraßen entfachen oder sich mit poppigen Videos auf YouTube präsentieren, geschieht eher selten. JAVis dürfen das. 
Die JAV, von manchen nicht ganz korrekt "Betriebsrat zum Ausprobieren" genannt, ist die Stimme der Jugend im Betrieb. Ihre Geschichte reicht zurück bis ins Jahr 1952, als das Betriebsverfassungsgesetz den Jugendlichen und Auszubildenden erstmals die Möglichkeit zur Wahl einer eigenen Vertretung bot, deren Kompetenzen allerdings nicht näher definiert waren. Erst bei der 1972er-Novelle wurden einige Rechte festgeschrieben. Die JAVis schöpften den neuen Spielraum aus - und gerieten damit auf Konfrontationskurs zu Arbeitgebern und Ausbildern. Wer als Jugendvertreter nicht kuschte, bekam im Betrieb keinen Fuß mehr auf den Boden. Allein 1972/73 wurden bundesweit mehr als 600 JAVis nach der Ausbildung nicht übernommen. Daraufhin wurde 1974 eine Schutzklausel gegen die Nichtübernahme von Jugendvertretern ins Gesetz aufgenommen. Mitglieder der JAV genießen außerdem einen besonderen Kündigungsschutz. 
Die Erfurter JAVis freuen sich über ein entspanntes Verhältnis zu "ihrem" Betriebsrat. Die Kollegen, erzählt Tobias Kraushaar, lassen den Jungspunden viel Freiraum. "Mein Betriebsratsvorsitzender freut sich, wenn wir zielführende Aktionen machen, auch wenn sich die Geschäftsführung drüber ärgert, und unterstützt uns nach Kräften." Nicht überall ist das Verhältnis zwischen Betriebsrat und JAV derart harmonisch. Häufig setzen die Betriebsräte, das Wohl der gesamten Belegschaft vor Augen, andere Prioritäten - und das führt dann zu Konflikten. Beim Thema Übernahme etwa haben die Jugendvertreter nach der Gesetzeslage "gar nichts mitzuschnabeln", erklärt IG-BCE-Bundesjugendsekretärin Katy Hübner. "Trotzdem gehen die JAVis natürlich mit ihren guten Argumenten für eine unbefristete Vollzeit-Übernahme zum Betriebsrat. Wenn der gerade in Verhandlungen steckt, weil eine Abteilung geschlossen oder verlagert werden soll, werden die Ohren für die Forderungen der JAV nicht besonders weit geöffnet sein." Die Betriebsverfassung bietet der Jugendvertretung lediglich kleine Nischen der Mitbestimmung. Fast in allen Belangen ist die JAV vom Wohlwollen des Betriebsrats abhängig. In einer Diplomarbeit wurde sie deswegen einmal zum "bloßen Hilfsorgan des Betriebsrats" herabgestuft. Die schwächere Stellung hat allerdings auch Vorteile. "Wären die JAVis mit mehr Rechten ausgestattet, könnten sie sich schnell ein blaues Auge holen", erklärt Katy Hübner. Die jetzige Rechtslage schütze die jungen Leute auch.
Rund 300 Kilometer nördlich vom Erfurter Güterverkehrszentrum, zwischen Hannover und Bremen, liegt der Chemiepark Walsrode, ein Konglomerat aus 20 Unternehmen um die Dow Wolff Cellulosics GmbH, geeint durch einen Tarifvertrag und einen Betriebsrat für alle 2200 Mitarbeiter. Die dortige JAV, ein Siebenergremium, vertritt fast 200 Auszubildende. Als die frisch gekürten Jugendvertreter sich nach den Wahlen 2008 einen ersten Überblick verschaffen wollten, mussten sie feststellen, dass ihre Vorgänger - mit einer löblichen Ausnahme - nicht gerade mit Elan zu Werke gegangen waren. Aus der Sicht der Geschäftsführung war das "eine Vertretung, mit der man gut zusammenarbeiten konnte", sagt der jetzige JAV-Vorsitzende Andreas Jansen, Chemikant im vierten Ausbildungsjahr.

Wie fast alle JAVis plagt auch die Walsroder der ständige personelle Aderlass. Wer ausgelernt hat, tritt in der Regel nicht mehr an. Bei den JAV-Wahlen alle zwei Jahre werden im Schnitt zwei Drittel der Mandatsträger zum ersten Mal gewählt, im Organisationsbereich der IG Metall waren es bei den 2010er-Wahlen sogar fast 73 Prozent. "Die kennen weder Betriebsverfassungsgesetz noch Berufsbildungsgesetz", erklärt Katy Hübner von der IG BCE, "und was sie mit oder ohne Betriebsrat dürfen, wissen sie auch nicht." Im Walsroder Chemiepark, berichtet Andreas Jansen, "hatten alle JAVis mit Erfahrung entweder aufgehört oder waren nicht wiedergewählt worden." In der laufenden Wahlperiode sieht es nicht besser aus. Bis zum Winter werden sich vier von sieben JAVis aus dem Gremium verabschieden. Sie haben ausgelernt. Umso wichtiger ist es für die Verbleibenden, die Arbeit zu strukturieren, Zuständigkeiten zu verteilen und alles so zu dokumentieren, dass es für spätere JAV-Generationen nachvollziehbar ist. Jansen und seine Mitstreiter mussten seinerzeit bei null anfangen. Jetzt ist alles in Ordnern abgelegt: Einladungen, Protokolle, Sprechstunden, IG-BCE-Mitgliederwerbung, Grillabende, Schichtgespräche, unangemeldete Betriebsbegehungen. Die hielten die Vorgänger für überflüssig. Andreas Jansen legt Wert darauf, dass die JAV im Betrieb präsent ist. 
EINSTIEG IN DIE FUNKTIONÄRSKARRIERE?_ Aus der Sicht der Gewerkschaften sind die JAVs ein Talentschuppen, eine Spielwiese der Mitbestimmung. Die meisten Gewerkschaftssekretäre haben einst als JAVi erste Erfahrungen in der betrieblichen Auseinandersetzung gesammelt und den Kontakt zur Gewerkschaft geknüpft. "JAVis sind unsere aktivsten Jugendfunktionäre/-innen", heißt es in einer Auswertung der IG Metall zu den 2010er-JAV-Wahlen. Sie seien "die besten Werber/-innen für die IG Metall und zudem gute Betriebsräte von morgen". Der Erfurter Post-JAVi Tobias Kraushaar, der noch einmal kandidieren darf und ab Oktober für ein Jahr an der Europäischen Akademie der Arbeit (AdA) in Frankfurt/Main studiert, kann sich eine Laufbahn als Gewerkschaftssekretär durchaus vorstellen. Oder er geht nach der AdA zurück zur Post. "Dann wird sich zeigen, was bei den nächsten Betriebsratswahlen rauskommt." 
Bei der IG BCE merkte man vor einigen Jahren, dass die Ressourcen für eine intensive JAV-Betreuung nicht mehr ausreichten. "Wenn der zuständige Sekretär vor der Wahl stand, entweder zur JAV-Sitzung zu gehen oder zu den Sozialplanverhandlungen", erinnert sich Katy Hübner, "fiel die JAV-Sitzung natürlich hinten rüber." Weil das immer wieder passierte, hat die IG BCE als bislang einzige Einzelgewerkschaft 20 JAV- und Jugendreferenten eingestellt. Das macht sich nicht zuletzt in der Mitgliederstatistik bemerkbar. Deutlich über 90 Prozent der JAVis im Zuständigkeitsbereich der IG BCE sind organisiert. Die IG Metall bringt es auf ebenfalls beachtliche 71,9 Prozent.
In Walsrode sind alle JAVis in der IG BCE. Dabei hatten die Vorgänger eindringlich gewarnt: "Geht bloß nicht zu den Gewerkschaftssitzungen!" Andreas Jansen ist Vorsitzender des Bezirksjugendausschusses, seine Stellvertreterin Peggy Verges Jugendwartin der IG-BCE-Ortsgruppe. Zu den letzten Wahlen traten sämtliche Kandidaten auf der IG-BCE-Liste an. Der Kreisvorsitzende der Jungen Liberalen, auch ein Walsroder Azubi, scheiterte mit dem Versuch, eine Gegenliste aufzustellen. Spätestens bei den von den Gewerkschaften angebotenen Einführungsseminaren für JAV-Novizen stellt sich die Frage des Eintritts. "Die sitzen da unter lauter Mitgliedern", erklärt Katy Hübner. "Dann geht der Teamer abends rund und sagt: ,Sag mal, ich hab gehört, du bist noch nicht bei uns. Was hat dich denn bisher davon abgehalten?'" 
Organisierte JAVis sind in der Regel auch fleißige Werber. "Von August bis November investieren wir massiv Ressourcen in die Mitgliederwerbung", sagt Katy Hübner. "Wenn die jungen Leute ein Jahr im Betrieb ohne uns klargekommen sind, kommen wir kaum noch an sie ran." Auch die Walsroder JAVis drücken aufs Tempo. Schon in den ersten beiden Wochen stellen sie sich vor; bei Würstchen und Bier erhalten die neuen Azubis eine IG-BCE-"Beginner-Mappe" - mit Brausepulver, Kondom und Aufnahmeantrag. Allerdings - "wenn einer wirklich aus Überzeugung sagt, dass er nicht eintreten will, und das auch begründet, lassen wir ihn in Ruhe."

EIGENE AKTIONEN STÄRKEN DAS PROFIL_ Immer wieder hört Andreas Jansen die Frage: "Was bringt mir denn die Mitgliedschaft?" Dann fragt er zurück: "Weißt du, wie hoch der gesetzliche Urlaubsanspruch für 18-Jährige ist?" Manchmal weiß einer, dass es 24 Tage sind. Den anderen sagt er es. Und fragt weiter: "Und wieso stehen in deinem Ausbildungsvertrag 30 Tage? Glaubst du, der Arbeitgeber hat das freiwillig reingeschrieben?" Sein Erfurter Post-Kollege Kraushaar hat letztens den Bundesfachbereichsjugendsekretär von ver.di zu seinen Azubis eingeladen zum Thema Rente mit 67. "Als der erklärt hat, wie ihre Rente später aussieht, ist manchen aber richtig die Kinnlade runtergeklappt." Manchmal kann der JAV-Chef nach so einer Versammlung einen unterschriebenen Mitgliedsantrag mitnehmen. 
Den meisten Zuspruch erhalten JAVs allerdings nicht durch Vorträge, sondern durch handfeste Aktionen. In der Walsroder Ausbildungswerkstatt stand früher ein gut gefüllter Korb mit Obst, aus dem sich jeder Azubi gratis bedienen konnte. Irgendwann war er weg. Auf Nachfrage bei der Geschäftsführung erhielt die JAV zu ihrer Verblüffung die Antwort, man habe die Versorgung mit Obst eingeführt, um den Krankenstand zu senken. Doch habe sich gezeigt, dass der Krankenstand unter den Azubis seitdem gestiegen sei. Deshalb sei der Korb abgeschafft worden. Auf der nächsten Vollversammlung der Auszubildenden trug Andreas Jansen in Anwesenheit des Geschäftsführers dessen Argumentation vor - vielleicht ein wenig polemisch zugespitzt. Der Saal wieherte. Unterdessen schleppten die JAVis einen riesigen Obstkorb herein. Der Boss verließ mit hochrotem Kopf die Versammlung. 
Jansen ist überzeugt, dass diese Aktion "geholfen hat, die Leute hinter uns zu versammeln". Leider blieb die Geschäftsführung bei ihrem Nein. In anderen Fällen dagegen konnte die JAV etwas erreichen. So hat jetzt jeder Azubi warme Winterarbeitskleidung. Als während der Krise vor zwei Jahren erstmals kein Auszubildender übernommen wurde, richtete die JAV eine Bewerberbörse ein. Vier der 30 Auslerner konnten vermittelt werden, immerhin. Auf Initiative der Jugendvertretung formierten sich fünf Fahrgemeinschaften, die bis zum Ende der Ausbildung hielten. Und weil die JAVis immer wieder mal unangemeldet in den Betrieben auftauchen, muss kein Azubi mehr befürchten, tagelang mit Dingen beschäftigt zu werden, die nichts mit seiner Ausbildung zu tun haben. Der Fall der Jungs, die nach einer Intervention der JAV das Treppenhaus nicht zu Ende streichen mussten, hat sich unter den Ausbildern schnell herumgesprochen.
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